Der wiederentdeckte Charme der Belle Époque
Ende des 19. Jahrhunderts brachte der Aufschwung des Tourismus im Berner Oberland eine beeindruckende Hotellandschaft hervor. Um eine internationale, anspruchsvolle Kundschaft zu gewinnen, entstanden prächtige Gebäude, die kunstvolle Architektur mit technischem Fortschritt vereinten.
Die Schweiz besitzt ein aussergewöhnliches Hotel-Erbe aus dieser goldenen Zeit des Tourismus vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Damals zog es wohlhabende Gäste aus ganz Europa in die Alpen – auf der Suche nach atemberaubenden Landschaften, frischer Bergluft und der Ruhe abgelegener Orte.
In diesem Zusammenhang entwickelten sich Bergorte wie Mürren und Wengen rasch zu beliebten Reisezielen. Die neu erstellten Hotels erfüllten die hohen Erwartungen ihrer Gäste und setzten neue Massstäbe bezüglich modernen Komforts: Fahrstühle, private Badezimmer, elegante Salons, Rauchzimmer und Bibliotheken wurden selbstverständlich. Gleichzeitig legte man grossen Wert auf die architektonische Gestaltung – man orientierte sich an historischen Stilrichtungen wie Barock und Klassizismus oder auch an regionalen Bautraditionen wie dem Heimatstil.
Typisch für die Hotels dieser Zeit sind ihre aufwendigen Dachformen, Türmchen und Erker sowie die zahlreichen Zierelemente, die an herrschaftliche Villen erinnern. Mit dieser Architektur, einer Mischung aus Luxus, Nostalgie und Moderne, wollte man ein gehobenes Publikum ansprechen und den Gästen einen eleganten und angenehmen Aufenthalt in den Alpen bieten.
Hotel Palace in Mürren: Wechselvolle Geschichte und neue Dépendance im Park
Das «Palace» in Mürren, ursprünglich 1874 eröffnet, wurde 1928 nach einem verheerenden Brand in neobarockem Stil neu aufgebaut. In den darauffolgenden Jahrzehnten erlebte das Gebäude wechselhafte und auch schwierige Zeiten, aus denen diverse An- und Umbauten hervorgingen.
Seit 2016 weht ein frischer Wind: Die Palace Avenir AG nahm die Neuausrichtung und Modernisierung des Hotels in Angriff und sorgt für neuen Aufschwung. Eine sorgfältige Sanierung und Restaurierung wurde eingeleitet: Die Fassaden wurden fachgerecht instandgestellt, die Fenster blieben erhalten. Der Eingangsbereich wurde umgestaltet und von nachträglichen Einbauten befreit. Im ehemaligen Speisesaal restaurierte man die originalen Parkettböden, dekorative Elemente wurden in historischen Farbtönen wiederhergestellt. Die kostbaren Art-Déco-Leuchten blieben erhalten, die Treppe zum Saal wurde hochwertig überarbeitet.
Im Park entstand im Rahmen eines qualitätssichernden Verfahrens ein moderner Neubau, der sich selbstbewusst in das Ensemble einfügt. Der Garten selbst wurde nach historischem Vorbild neu angelegt.
- Der ehemalige Speisesaal nach der Restaurierung (Foto: Dürr Architekturfotografie Zürich).
- Die kostbaren Art-Déco-Leuchten blieben erhalten (Foto: Dürr Architekturfotografie Zürich).
- Dekorative Elemente wurden in historischen Farbtönen wiederhergestellt (Foto: Dürr Architekturfotografie Zürich).
Grand Hotel Belvédère in Wengen: Salons im Geist der Belle Époque

Auch das Grand Hotel Belvédère in Wengen, 1911 im Heimatstil erbaut, wurde behutsam saniert. Die Gebäudehülle mit massivem Sockelgeschoss und drei reich verzierten Jugendstil-Erkern hat ihr ursprüngliches Aussehen bewahrt. Ein moderner Wellnessbereich ergänzt das Hotelangebot, der Garten wird aktuell neu angelegt.
In der Belle Époque waren insbesondere die eleganten Gesellschaftsräume das Herzstück grosser Hotels. Die prachtvoll gestalteten Salons, Bibliotheken, Fumoirs oder Speisesäle spiegelten den gesellschaftlichen Status der Gäste wider und boten den idealen Rahmen für das Sehen und Gesehen-werden. Diesem Zeitgeist entsprechend wurden die Salons im Erdgeschoss des «Belvédère» originalgetreu restauriert.
Die Freilegung der Farb- und Putzschichten brachte das ursprüngliche Dekor der Wände zum Vorschein. Als Inspiration hatten offensichtlich die Bände «Dekorative Vorbilder» gedient, die um 1900 im Verlag Julius Hoffmann, Stuttgart, erschienen waren. Auch die Apsis des Speisesaals erhielt ihr ursprüngliches Dekor zurück. Holzvertäfelungen, Wandbespannungen und Möbel wurden behutsam gereinigt und restauriert, moderne Technik – etwa Brandschutztüren – diskret integriert. In der Empfangshalle restaurierte man den Kamin und das Treppenhaus. Einer der Salons, vermutlich ehemals der Damensalon, beherbergt heute eine Bar in Jugendstil-Gestaltung. Alle Aufenthaltsbereiche im Erdgeschoss wurden mit zeitgenössischem Mobiliar ausgestattet.
Blick in den Speisesaal (Foto: Lucas Dutertry).
Die Apsis im Speisesaal erhielt ihre historischen Motive durch die Freilegung der Farb- und Putzschichten zurück (Foto: Lucas Dutertry).
Das Jugendstildekor wurde behutsam gereinigt und restauriert (Foto: Lucas Dutertry).
Ein Kulturerbe, das weiterlebt
Die beiden aktuellen Restaurierungen zeugen eindrücklich von der Lebendigkeit des Schweizer Hotelkulturerbes. Die hohe Qualität der baulichen Massnahmen zu seiner Erhaltung steht für einen umfassenden Ansatz, der den Respekt vor dem historischen Bauwerk, handwerkliches Können, ästhetisches Feingefühl und die Anpassung an heutige Nutzungsanforderungen miteinander verbindet.
Dank dieses Engagements empfangen zwei traditionsreiche Betriebe im Berner Oberland weiterhin Gäste aus aller Welt – und lassen sie in die authentische Atmosphäre der Belle Époque eintauchen. Dieses lebendige Kulturerbe ist ein wertvolles Zeugnis der touristischen und architektonischen Geschichte der Schweiz und erzählt auch künftigen Generationen von der grossen Zeit des Alpentourismus.
Massnahmen und Geschichte
Text: René Koelliker
Fotos: Dürr Architekturfotografie, Zürich (Palace), Lucas Dutertry (Belvédère)
Fachwerk 2025